Elternschule – Das dunkle Erbe der Verhaltenspsychologie

Um den Film „Elternschule“ herrscht eine kontroverse Debatte. Es geht nicht allein um die gezeigten Inhalte und Methoden, sondern auch um die gesellschaftliche Wahrnehmung und Positionierung zu den Inhalten. Allein der Begriff „Schule“ suggeriert, dass es etwas Grundlegendes zu erlernen gibt.

Ich wollte den Film Elternschule eigentlich nicht anschauen, denn ich wusste, dass mich die Bilder sehr aufwühlen würden. Da ich aber um eine Stellungnahme zur Elternschule gebeten wurde, habe ich ihn über mich ergehen lassen. Es wurden ja bereits viele persönliche Eindrücke dazu verfasst, wie schockierend und schädigend der Umgang sei oder die Kritik von Gewaltanwendung gegen Kinder (übrigens auch physische).

Ich möchte mich mit der Elternschule im Kontext eines weiteren Themas auseinandersetzen.

Das dunkle Erbe der Verhaltenspsychologie

Ein Thema, auf das ich immer wieder verweise. Denn für einen Wandel hin zu einer kindgerechten Gesellschaft ist es meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung die Sichtweise der Verhaltenspsychologie und den Prinzipien der Ökonomie zu überwinden.

Mit einem behavioristischen Verständnis des Menschen, erscheinen die Maßnahmen in der Klinik absolut sinnvoll, logisch und nachvollziehbar. So entsetzt sich viele über den Umgang im Film zeigen, so entspricht dieser Umgang und das darin enthaltene Menschenbild der heutigen Erziehungs-Realität vieler Kinder (auch in meinem Elternhaus).

Verhaltenspsychologische und lerntheoretische Annahmen bestimmen nun schon eine ganze Weile unser Verständnis von menschlicher Entwicklung und der Erziehung von Kindern. Deshalb möchte ich kurz die beiden zentralen Annahmen kritisch beleuchten.

Das Verhalten lenken

Im Zentrum steht das Verständnis einer „blank slate“ (leere Tafel).

So versteht die Verhaltenspsychologie und dementsprechend das Klinikpersonal den Mensch als ein leeres Gefäß ohne innere Impulse oder Motivationssysteme. Jegliches Verhalten wird einzig und alleine von der darauffolgenden Reaktion geformt. Je nachdem, ob die Reaktion angenehm oder unangenehm ausfällt, tritt das Verhalten häufiger (Verstärkung) oder seltener (Vermeidung) auf. Basierend auf dieser Annahme kann das Verhalten direkt geformt werden (Konditionierung) und findet sich in der Erziehungshaltung des Belohnens und Bestrafens wieder.

So versucht das Klinikpersonal mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das unerwünschte Verhalten so unangenehm wie möglich zu machen. Hierfür nutzen sie vor allem ihre körperliche Dominanz, sowie die existenzielle Abhängig der Kinder aus. Das Ziel ist klar: Den Kindern zeigen, wer der Chef ist.

Einige Kinder verlieren während der „Behandlung“ so massiv an Gewicht, dass selbst die Klinikärzte gesundheitliche Bedenken bekommen und über eine Sonde zugefüttert werden muss. In einem Gespräch geht hervor, dass ein Kind sogar das über die Sonde eingeführte Essen wieder erbricht. So massiv ist der Widerstand der Kinder. Immer wieder sieht man, wie sie versuchen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu wehren, was der Klinikleiter dann als ihre „Masche“ deklariert. Ein Mädchen, das mehre Tage still dasitzt und das Essen verweigert sei „zwar eine Ruhige, aber sehr clever.“ Clever? Hieran zeigt sich die Sichtweise des Klinikpersonals. Sie sehen sich und die Kinder als Kontrahänten in einem strategischen Schlagbatausch, bei dem der / die Cleverste oder Stärkste gewinnt.

Die Schwarze Box

Die zweite zentrale Annahme versteht den Mensch als „black box“ (schwarze Kiste). Die Verhaltenspsychologie macht sich nicht die Mühe und hat auch kein Interesse daran, die Abläufe im Inneren des Menschen verstehen zu wollen. Was ihn wirklich bewegt. Von Bedeutung ist nur, ob die Methoden der Konditionierung funktionieren (ob das gewünschte Verhalten erzielt werden kann) und nicht warum sie funktionieren. Da keine Einsichten dazu vorliegen, was Kinder dazu bewegt sich auf eine bestimme Art und Weise zu verhalten, wird jedes Verhalten als absichtlich und zielgerichtet interpretiert. So hat die Verhaltenspsychologie keine Ahnung davon, warum ein spezifisches Verhalten überhaupt auftritt, also werden gehaltlose Gründe erfunden. Kinder wollen Grenzen testen, ihre Eltern schikanieren, ihren Willen durchsetzen, Machtkämpfe ausfechten usw. Immer wieder werden Kinder vom Klinikpersonal als kalkulierende Strategen dargestellt, die rücksichtslos auf ihr geplantes Ziel hinarbeiten.

„Er muss mich ja dazu bringen, dass ich für ihn renne“,

„Während ich denke, der Süße, hat er mich schon drei Mal übern Tisch gezogen“,

„er will ja überleben, wie es mir dabei geht, ist ihm scheißegal“.

Selbst der Überlebenswunsch wird den Kindern hier vorgeworfen und die Erwachsenen als Opfer dargestellt. Der Klinikleiter bleibt die Erklärung schuldig, auf welcher Logik es beruht, warum Kinder die Versorger, von denen sie existenziell abhängig sind, gegen sich aufzubringen sollten?

Wir können problemlos ohne Kinder überleben, sie aber nicht ohne uns. Worum genau soll sich also der Machtkampf drehen?

Davon abgesehen beginnt sich das Hirnareal (der präfrontale Cortex), mit dem wir logisch und strategisch denken und planen erst ab dem 5./6. Lebensjahr auszubilden.

So setzt der Klinikleiter das hungernde Mädchen, mit einem strategischem politischen Widerstand Gandhis gleich. Das ist natürlich völlig absurd.

Die wahren Beweggründe bleiben der Verhaltenspsychologie durch die black box verborgen.

Dass der Mensch keine „blank slate“ ist, zeigt auch das Verhalten der Eltern. Aus verhaltenspsychologischer Sicht muss man sich doch fragen, warum Eltern sich überhaupt um solche Kinder kümmern, die es durch ihr Verhalten so unattraktiv machen. Warum geben Eltern ihre Kinder nicht gleich bei den ersten Schwierigkeiten weg und probieren es einfach mit einem neuen Kind? Wäre doch viel angenehmer und der Theorie entsprechend.

Weil die Verhaltenspsychologie in dieser Hinsicht grundlegend daneben liegt und die Natur genau dafür vorgesorgt hat und wir mit Impulsen und Motivationssystemen ausgestattet sind. Eines davon ist das Bindungssystem und nur unter Einbezug von Bindung ist die oben gestellte Frage überhaupt schlüssig zu beantworten (mehr über Bindung hier). Es sind eben diese in uns angelegten Motivationssysteme, die uns bewegen und unser Verhalten beeinflussen. Sie bewegen uns dazu nicht einfach nur angenehme Wege beschreiten, sondern auch Schwierigkeiten in Kauf zunehmen. Und so werden die ausschlaggebenden Begriffe wie Bindung und Spielen in 91 min Elternschule jeweils nur einmal in Nebensätzen erwähnt. Der dritte bedeutende Begriff taucht im Film gar nicht auf.

Emotionen

Wir Menschen sind zutiefst emotionale Wesen. Das gilt umso mehr für Kinder. Zu keinem Zeitpunkt wird in Elternschule gefragt, wie die Kinder empfinden, wie ihr emotionaler Zustand ist oder wie sie sich fühlen. Angst, Verzweiflung, Frustration, Orientierungslosigkeit, Scham, Wut. All das taucht nicht auf, obwohl es den Kindern ins Gesicht geschrieben steht. Immer wieder hallt der Satz in mir nach: Es ist ihre “Masche”. Aber das verwundert mich nicht. Denn Emotionen sind im Behaviorismus eine Störvariable und werden so gut es geht ignoriert. Es herrscht eine Blindheit für die eigentlichen Triebfedern, die unser Verhalten ausmachen.

Emotionen bewegen uns.

Sie bewegen uns zur Vorsicht und Kooperation, wenn Gefahr droht.

Sie bewegen uns zum Nähestreben bei Hunger nach Verbundenheit.

Sie bewegen uns zum Zurückscheuen vor Fremdem.

Sie bewegen uns zum Aufbrechen, wenn wir uns sicher fühlen.

Sie bewegen uns zum Widerstand, wenn wir Zwang verspüren.

So drücken die Methoden der Verhaltenspsychologie, ohne darüber Bescheid zu wissen, genau auf diesen emotionalen Knöpfen herum.

Wenn der Klinikleiter in einer Situation, in der sich ein Mädchen protestierend auf den Boden setzt, einfach weggeht, ohne etwas zu sagen, löst das Alarm aus und das Mädchen wird zur Kooperation bewegt. Eine Methode, die man auch regelmäßig auf Spielplätzen, in Schwimmbädern usw. beobachten kann. Und sie funktioniert.

Ja die Methoden der Verhaltenspsychologie bzw. die der Klinik (können) funktionieren. Sie führen zum gewünschten Ergebnis – der Verhaltenssteuerung.

Wenn es darum geht, das natürliche Verhalten eines Wesens nach den eigenen Vorstellungen bis zur Unkenntlichkeit zu verformen, bieten die Methoden des Behaviorismus geeignete Werkzeuge dafür.

So können wir Bären dazu bringen auf den Händen zu laufen oder mit dem Fahrrad durch die Manege zu fahren.

Wir können Elefanten dazu bringen Polonaise zu tanzen oder auf einem Ball zu balancieren.

Wir können Löwen und Tiger dazu bringen Pfötchen zu geben und durch Reifen zu springen.

Oder wir können Kinder dazu bringen Trennung nicht mehr als alarmierend wahrzunehmen, ihre Emotionen zu unterdrücken und Zwänge widerstandslos über sich ergehen zu lassen.

Nichts davon ist natürlich. Oder ethisch vertretbar. Aber es funktioniert.

Übrig bleibt die unausgesprochene Frage, zu welchem Preis diese Methoden funktionieren? Auch wenn niemand wirklich danach fragt, solange sie bloß funktionieren.

Die Antwort ist eindeutig. Der Preis ist hoch. Diese Methoden, dieser Umgang hat gravierende Auswirkungen.

Es ist der Preis emotionaler Gesundheit und Stabilität.

Es ist der Preis von Beziehungsfähigkeit.

Es ist der Preis einer gesunden Entwicklung.

Es ist der Preis unserer Verletzlichkeit und

Letzten Endes der Preis unserer Menschlichkeit.

Wie ich in diesem Artikel beschrieben habe, können wir den emotionalen Ausnahmezustand, dem diese Kinder ausgesetzt sind, nicht lange aushalten. Das Gehirn fängt an uns zu schützen, indem es sich panzert und das emotionale System herunterfährt. Handlungen werden nicht länger als verletzend wahrgenommen oder Emotionen ganz abgestellt.

So ist dann Trennung nicht mehr alarmierend,

Zwang erzeugt keinen Widerstand mehr,

der eigene Wille verliert die Bedeutung,

vor Fremdem wird nicht mehr zurückgescheut, es wirkt sogar anziehend usw.

Und ohne es zu wissen (Stichwort black box) verweist der Klinikleiter in einer Szene auf genau diesen Mechanismus, wenn er davon spricht, „den Kindern die Chance zu geben physiologisch runterzufahren“

Panzerungen sorgen zunächst dafür, dass sich das beobachtbare Verhalten bessert und Kinder besser zurechtkommen. Genau hierfür sind Panzerungen ja auch da. Sie machen eine unerträgliche Situation erträglich. Wenn Panzerungen aber chronisch werden und nicht auf kurze Zeiträume begrenzt sind, sind langfristig die oben genannten Konsequenzen damit verbunden.

Familien in Not

Zum Schluss möchte ich noch auf meinen Eindruck der gezeigten Familien eingehen. Die Eltern wirken verzweifelt, ratlos und überfordert in ihrer Situation und der Besuch der Klinik scheint für viele der letzte Strohhalm zu sein. Das Leid ist auf allen Seiten spürbar. Die Familien brauchen zweifelsohne Hilfe und Unterstützung. Für mich ist auch in allen Szenen zu sehen, wie viel Liebe und Zuneigung für die Kinder in den Eltern vorhanden ist und dass das letztlich nicht ausgereicht hat. Denn seine Kinder zu lieben und zu versorgen ist letztlich nicht der entscheidende Punkt. Ausschlaggebend für eine gesunde Bindung ist, ob sich das Kind geliebt und versorgt fühlt. Und da besteht ein qualitativer Unterschied. Anders ausgedrückt geht es nicht um die Eltern-Kind-Bindung, sondern um die Kind-Eltern-Bindung.

Und ohne die genauen Gründe dafür zu kennen oder näher darauf einzugehen, ergibt sich aus den Beschreibungen, dem Leid und den Nöten der Eltern, dass eine tragfähige Kind-Eltern-Bindung fehlt. Natürlich resultiert so ein Notstand nicht nur aus einem, sondern aus einer ganzen Reihe von Faktoren. Aber ein großer Teil der beschriebenen Probleme deutet auf Probleme im emotionalen und Bindungssystem hin.

Die Filmemacher waren in der ersten Szene eigentlich der richtigen Frage auf der Spur.

„Wir wollen alle das Beste für unser Kind. Aber was, wenn die Beziehung gestört ist?“

Hier müsste angesetzt werden. Was ist die Ursache für die „gestörte Beziehung“? Fühlen sich die Kinder versorgt und geliebt? Fühlen sie sich sicher und geborgen? Wie können die Eltern dabei unterstützt werden, die Beziehung wieder fruchtbar zu machen?  Durch Tyrannei und das Gesetz des Stärkeren?

Werden die Maßnahmen der Klinik dafür sorgen, dass die Kinder sich zukünftig sicherer und geborgener fühlen? Werden sie die Beziehung zwischen Kind und Eltern stärken? Wohl kaum. Ich traue mich nicht eine Zukunftsprognose zu stellen und hoffe auf den bestmöglichen Ausgang für die Familien.

Denn eines sollten wir festhalten. Es ist nie zu spät. Die Natur lässt die Tür für Entwicklung stets offen.

Der Film Elternschule hat zweifelsohne skandalöse Züge, doch besteht die Chance, dass durch den Film, das problematische Menschenbild sichtbar wird, das unsere Gesellschaft immer noch dominiert. Deshalb ist es meine Hoffnung, dass dieser Beitrag zur Reflektion anregt und einen Anstoß dazu gibt, die Sichtweise und das Erbe der Verhaltenspsychologie zu überwinden.

Für Fragen und Austausch lade ich dich herzlich in meine moderierte Facebook-Gruppe ein.

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#kindgerechteGesellschaft

#shareIFyouCARE

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Rückmeldungen

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  1. Großartig – vielen, vielen Dank für diesen so eindeutigen, vieles abdeckenden Beitrag!

  2. Dank Dir. Habe sehr ähnlich empfunden. Es wirkte auf mich sehr im Sinne die Kinder sind sehr kalkulierende Wesen. Das hat mich sehr aufgeregt. Ich erlebe mit meinem Sohn eine intensive Bindung und es geht um unsere Beziehung die jeden Tag aufs Neue Zeit und Geduld und Verstehen und Austausch braucht. Und finde gut dass du nicht pauschal verurteilst sondern auch die Not der Eltern beschreibst. Alle wollen, wissen aber leider oft nicht was die Kinder brauchen. Das ist die wichtige Perspektive. Übrigens tolles Buch von Gordon Neufeld "unsere Kinder brauchen uns". Steffen